„Die schönsten Träume von Freiheit werden im Kerker geträumt“ (Friedrich Schiller)
In diesem Fall ist mein Kerker nicht unser etwas heruntergekommenes, aber sehr gemütliches zu Hause in unserem Dorf, umgeben von lauter arbeitswütigen Heimwerkern, die mir sogar am Samstag morgen um 07:45 mit ihrer Kreissäge den letzten Nerv ziehen, sondern meine Gedanken...
Über die Zukunft, über den Zustand dieser Welt, über die Politik, über die Menschheit, über meinen wachsenden Wäscheberg im Keller und mein Unvermögen gerade produktiv zu sein.
Mein Alter Ego, die Caftan Lady hat sich in ihr Steilküstenhäuschen verzupft, sie trinkt Gin Tonics und läuft barfuss über den Strand, sie liebt die Wellen, die schon immer unbeeindruckt waren, vom Lauf der Zeit, schreibt, sinniert, beobachtet ihre weißen Vorhänge, die sich im Wind bauschen. BHs trägt sie schon lange nicht mehr. Sie führt ein einfaches, zufriedenes Leben. Wenn sie Besuch bekommt, isst und trinkt man gemeinsam, manchmal wird gesprochen, aber es reicht vollkommen einfach da zu sein. In meiner Vorstellung ist sie bereits alt, ihre Kinder haben nach der Krise in diesem schrägen Jahr 2020 und den folgenden Jahren jedes für sich einen Weg beschritten, der sie heute noch stolz macht. Sie sind mutige, kreative und liebevolle Erwachsene geworden, trotz allem was sie an Krisen, Enttäuschungen und Dramen zu meistern hatten, vor denen ich sie nicht beschützen oder bewahren konnte. Heute kommen sie zu mir, fröhlich und freiwillig, wir feiern morgen gemeinsam meinen Geburtstag.
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Dieses Bild ist heute wieder klarer, die letzten zwei Wochen ist es nur selten aufgeblitzt, trüb und überschattet von meinen Gedanken. Andere Anteile haben die Führung übernommen und wollten verstehen, was hier los ist, was man dagegen tun kann, herausfinden, wer nun Recht hat und wer nicht. The monkey mind took over, voilà hier eine „Best of“ Auswahl:
1. Der „Die spinnen doch alle!“ – Anteil, der sich ziemlich lange hielt. Ich hab das nicht kommen sehen. Das darf doch nicht wahr sein, und tatsächlich ist meine Arbeit gecancelled und die Schule zu. Fuck.
2. Der „Wir machen uns ein saugemütliches Wochenende“ - Anteil. Sonntag Abend vor Tag 1 der Self Isolation brachte es mein Sohn auf den Punkt. „Fühlt sich jetzt schon an wie 3 Wochen!“
3. Der „News & Kommentar - Leser -Junkie“ – Anteil. Der ist zum Glück schon sehr erschöpft, weil er tage- und nächtelang am Handy nach Futter gesucht hat.
4. Der „Ich hab die Arschkarte gezogen“ – Anteil. Ein Bad im Selbstmitleid, bisschen suhlen und erkennen, ich hab vielleicht viele Krisen und Dramen in diesem Leben alleine durchstehen müssen. Jetzt bin ich nicht allein, unzähligen Menschen geht´s genauso, und noch mehreren viel viel beschissener. Abgehakt.
5. Der „Ich bin in einem dystopischen Film“- Anteil. Könnte ich die Heldin in diesem Film sein? Und die Erkenntnis, wohl eher nicht. Hysterischer Lachkrampf inklusive, bei der Vorstellung ich trage Latz und Pfeil und Bogen, ich bin kein Mocking Bird. Kommen jetzt Hunger Games?
6. Der „Gammler“ – Anteil. Ich bleibe im Pyjama. Die Beine können auch einen Tag länger unrasiert bleiben. Gefolgt von…
7. Der „Mach dich hübsch!“ –Anteil. Erstaunlich was ein bisschen Farbe im Gesicht ausmachen kann. Bis ich mir die Augen reibe… das ist der angesagte „Panda“-Look.
8. Der „Putzteufel“ –Anteil. „Kinder, wir müssen Ordnung halten!“ Eine kleine Ansprache, die mit Augenrollen quittiert wurde. Ordnung im Außen bringt Ordnung im Innen. „Ja, Gebieterin!“ Es funktioniert erstaunlich gut.
9. Der „Grantscherben“ – Anteil. Ja gut, auch der. Und jetzt verpiss dich.
10. Der „Erleuchtete“ –Anteil. Kontemplieren, meditieren, wir sind alle eins und verbunden. Das ist die Wende, die diese Welt braucht. Eine Auseinandersetzung mit dem Gesetz der Polarität. Ich sehe Möglichkeiten, habe Visionen. Hoffe auf eine Gotteserfahrung à la Christa Kössner und auf die Botschaft, die mir gechannelt wird, damit ich sie in diese Welt hinaustragen kann. Meine Kinder wünschen sich den Putzteufel zurück.
11. Der „Ich hasse meine Nachbarn“ – Anteil. Die Schreikinder und deren ständig Kinderlieder summmende Mutter, die niemals laute, aber mehr und mehr passiv-aggressive Töne spukt, wo Tag und Nacht geputzt, gehämmert, gebohrt und gefegt wird, lassen mich erkennen, auch das Böse steckt in mir. Siehe weiter oben, Gesetz der Polarität. Ich möchte mitspielen und Gegenstände durch die Hecke auf ihre Dartscheibe schießen, dabei summe ich leise ein Kinderlied.
12. Der „FB Challenges Annehmende“ – Anteil. Das war ganz lustig, aber jetzt ist´s auch wieder gut. Die Powerfrau bleibt gerade lieber hinter dem Vorhang.
13.Der „Rebellion!“ –Anteil. Das wird noch interessant. Angst vor dauerhaften Gesetzesänderungen, die uns massiv einschränken und bevormunden. Eines Tages froh sein zu dürfen, wenn man „Systemerhalter“ ist, weil alles andere in einem totalitären Staat nicht mehr erlaubt ist. Das System ist zu erhalten, koste es was es wolle. Siehe Punkt 5. Ich entdecke Anzeichen von Vernaderung in den Kommentaren zu neuesten Entwicklungen. Das macht mir Angst. Wo sind alle, die in den letzten Jahren immer vor „wehret den Anfängen“ gewarnt haben? Warnt weiter! Die Sprache der Journalisten und Kommentatoren ist ein großes, rotes warnendes Rufzeichen! Menschen, die erkrankt sind, sind Infizierte , Tote oder Genesene. Der medizinische Sprachgebrauch ist von jeher ent-menschlichend, rein wissenschaftlich. Losgelöst von unserem Herz , dis-heartened in Englisch, ent-mutigt. Und sobald wir Menschen ent-menschlicht und ent-mutigt sind, werden Infizierte, Arbeitslose, Antragsteller, Junge, Alte zu einer großen nominalisierten, anonymisierten Masse, das Mitgefühl schwindet, weil der Mensch als einzelner verschwindet. Und plötzlich fällt es leicht auf eine Gruppe hinzuhauen. Ja, auch Politiker, die Regierung und die Meinungsträger und Experten sind alles nur Menschen, daran darf ich mich auch erinnern. Und keiner hat wohl die gesamte Weisheit mit dem Löffel gefressen und dann für sich gepachtet?
Experten, Ärzte und Forscher, die jahrelang nicht nur nach westlichen, sondern auch östlichen Traditionen praktizieren und beachtliche Erfoge aufweisen können, sind Scharlatane. Menschen, die jahrelang jahrtausendealte spirituelle Lehren studiert haben und weitergeben, sind Spinner und Esoteriker. Wissenschafter und Experten, deren Meinung abweicht, werden im besten Fall ignoriert, im schlimmsten Fall als „Verschwörungstheoretiker“ und „Aluhut“-Träger abgewürgt. Fairerweise muss man dazusagen, dass es auf der anderen Seite die „Schafe“ gibt, die blind und blauäugig sich „dem Wolf zum Fraß“ opfern… Uns gefallen Menschen, die so ähnlich ticken, wie wir selbst. Das gibt uns das Gefühl von „ich bin OK“ und Zugehörigkeit. Und dann gibt es ganz viel Projektion, die aus Ablehnung eigener Anteile, aus Angst und Verletzungen resultieren, aus eigenen blinden Flecken. Spannende Zeit. Toleranz, so scheint es dieser Tage, herrscht dann, wenn alle das gleiche denken. Können wir nicht auf uns alle gegenseitig aufpassen, als Menschenfamilie und verschiedene Ansichten zumindest zulassen? Naiv, idealistisch? Vielleicht.
14. Der „Einfach weiter arbeiten“ - Anteil.
15. Der „Hat eh alles keinen Sinn“ – Anteil. 14 und 15 wechseln sich ab. Arbeitstier und Faultier. Vielleicht eh ganz gesund. Process over Perfection. Ich muss nicht alles heute und jetzt gebacken bekommen.
16. Der „Ich schau dem Gras beim Wachsen zu“ – Anteil. Kontemplieren und beobachten, grün beruhigt. Den ersten Zitronenfalter hab ich schon gesehen. Zeit ist ja jetzt genug, oder? Und da schleicht sich der Gedanke ein „ich sollte dringend rasenmähen!“ (Gusch, siehe Punkt 6. Aber vielleicht übertönt der Rasenmäher das Geschrei der Nachbarskinder? Ich entscheide später)
17.Der „Wir müssen das Land verlassen“ – Anteil. „Und wie, du Lustige?“ (Eins meiner Kinder) Diese Episode endet in Gelächter, ein Dorf irgendwo in Afrika feiert die Rückkehr ihrer Buschfrau.
18. Der „Ich muss mich jetzt sofort entspannen“ - Anteil. Funktioniert besonders gut. NOT. Genauso wie „sei mal spontan“. Oder mein Lieblingssatz: „Lass einfach los!“ Vor drei Tagen hab ich´s in die Badewanne geschafft und nach einer Stunde floaten, bis die Haut schrumplig war, seit langer Zeit mal wieder so etwas wie Entspannung gefühlt. Es empfiehlt sich nicht, nachher wieder den Anteil aus Punkt 3 (News) ans Ruder zu lassen. Ich sag´s nur.
19. Der „Ich hasse alle Online Kuchenbacker-Yogis - Pflanzensammler-das ist alles so romantisch und entschleunigend – Hipster-Kacke“ – Anteil gefolgt von der Erkenntis, in Zeiten wie diesen ist mein…
20. Der „Judgemental Bitch“ – Anteil… schon ganz beträchtlich. Und hat sehr viel mehr mit mir selbst, als mit allen Aktiven da draußen zu tun. Ja, euer Leben ist toll, bunt, aktiv, ohne Sorgen und mühelos. So scheint es. Ich will das auch! Oder nein, nie im Leben fang ich jetzt auch noch zum Backen an! Alles ist gut! Toleranz, Madame! Die einen tun das, die anderes das.
Coping Strategies, jeder hat sein Binkerl zu tragen. Mein Akku ist leer, mein Ruhebedürfnis groß. Ich mach genug, ich bin genug.
21. Der „Was ist schon real?“ – Anteil. Die Welt ist das, was ich von ihr halte. Merk dir das endlich und schau in eine andere Richtung!
22. und der „Es kommt wie es kommt“ – Anteil… bitte bleib. Wie wenig Kontrolle wir über den Lauf der Dinge haben, dürfte zur Zeit ziemlich klar sein. Das hat nichts mit aufgeben zu tun, aber alles mit Akzeptanz. Ich übe.
23.Last but not least, und diesen Anteil will ich weiterhin kultivieren und stärken, macht er doch einen großen Teil von mir aus: der „Humorist“ denn „every time you are able to find some humor in a difficult situation, you win!“
So absurd, so herausfordernd, so schwierig es auch sein mag, „gibt es schließlich eine bessere Form, mit dem Leben fertig zu werden, als mit Liebe und Humor?“ (Charles Dickens)
Ich schick Euch das, was ihr gerade am dringendsten braucht!
Und lasst mich gerne wissen, welche Anteile sich bei Euch gerade so melden! Das gibt eine lustige Party ;-)
Alles Liebe,
Eure Caftan Lady
aka Lydia
(aus der Kommandozentrale in Hainbach City, dem Mega-Heimwerker-Halligalli-Dorf. Das Rasenmähen ist vertagt.)
PS: Der letzte Anteil, der sich jetzt noch gemeldet hat und von mir ein bisschen Applaus möchte, ist der „Kreativling“ , creativity over chaos, welcome back!
PPS: Nein, ich bin nicht schizo. ;-)
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